München:
Erfolgreicher Test im bundesweit ersten Reallabor
zum Zivilprozess
Gerichte in Bayern und Niedersachsen erproben Software
zur digitalen Aufbereitung von Streitstoff in Zivilverfahren / Bayerns
Justizminister Eisenreich: „Dieses weiterentwickelte Basisdokument kann
ein wichtiger Baustein für den Zivilprozess der Zukunft sein.“ Die niedersächsische
Justizministerin Dr. Wahlmann: „Die Richterassistenz ist ein Meilenstein
und der Beweis einer modernen und zukunftsorientierten Justiz.“ Über einhundert Verfahren verschiedener Rechtsgebiete,
60 Richterinnen und Richter, 18 Monate Testphase: Bayerische und niedersächsische
Landgerichte haben in dem bundesweit ersten „Reallabor“ im Zivilprozess
erfolgreich eine Software erprobt, die in Zukunft in Zivilprozessen die
Arbeit erleichtern könnte. Bayerns Justizminister Georg Eisenreich:
„Zivilgerichte sind bundesweit mit Dieselverfahren, Fluggastklagen,
Schadenersatzklagen wegen behaupteter Datenschutzverstöße, Klagen
gegen Prämienerhöhungen von privaten Krankenversicherern und
zahlreichen weiteren Massenverfahren stark belastet. Es kostet wertvolle
Zeit und Ressourcen, den Streitstoff zu ordnen und die wesentlichen Elemente
zu erfassen. In unserem Projekt haben wir ein digitales Basisdokument getestet,
das an die Stelle der Schriftsätze tritt. Dadurch wird der Streitstoff
digital aufbereitet, übersichtlich dargestellt und der Zivilprozess
kann gerade auch bei Massenverfahren und Verfahren mit geringen Streitwerten
für alle Beteiligten transparenter und effektiver werden.“ Die
niedersächsische Justizministerin Dr. Kathrin Wahlmann:
„Gerade im Zuge der Modernisierung und Digitalisierung der Justiz
sollten wir innovative Technologien nutzen, um Gerichte insbesondere bei
der Bearbeitung einer Vielzahl an ähnlich gelagerten Verfahren zu
entlasten. Mit dem digitalen Basisdokument ist uns genau das gelungen:
Mithilfe modernster Technologie haben wir eine Lösung entwickeln können,
die es Richterinnen und Richtern ermöglicht, effektiver zu arbeiten
– gerade in Massenverfahren. Das beschleunigt nicht nur Prozesse
und entlastet die Kolleginnen und Kollegen bei Gericht. Es stärkt
auch das Vertrauen der Menschen in unsere Justiz, die sich modern und zukunftsorientiert
aufstellt.“ Die eineinhalbjährige Erprobungsphase an
den Landgerichten Hannover, Landshut, Osnabrück und Regensburg ist
erfolgreich abgeschlossen. Die an dem Projekt beteiligten Lehrstühle
für Deutsches Verfahrensrecht (Prof. Dr. Christoph Althammer) und
für Medieninformatik (Prof. Dr. Christian Wolff) an der Universität
Regensburg werten derzeit die Ergebnisse aus. Der Abschlussbericht wird
im Juli vorgestellt. Eisenreich: „Dieses
weiterentwickelte Basisdokument kann ein wichtiger Baustein für den
Zivilprozess der Zukunft sein. Das Projekt sollte erproben, ob sich Lösungen
finden lassen, die für Gerichte, die Anwaltschaft und die Bürgerinnen
und Bürger gleichermaßen hilfreich sind. Ein Werkzeug, mit dem
Massenverfahren und Verfahren mit geringen Streitwerten schneller und effizienter
bearbeitet werden können, hilft allen. Deshalb haben wir auch die
Praxis von Anfang an in die Entwicklung der Software eng eingebunden. Rechtsanwältinnen
und -anwälte sowie Richterinnen und Richter haben ihre praktischen
Erfahrungen eingebracht. Das entwickelte Basisdokument ist ein Projekt
von Praktikern für Praktiker.“ Ministerin Wahlmann:
„Ich danke allen Richterinnen und Richtern und Rechtsanwältinnen
und Rechtsanwälten, die den Aufwand nicht gescheut und an dem Projekt
mitgewirkt haben. Nur so ist es uns gelungen, ein Tool zu entwickeln, das
den Bedürfnissen aller am Prozesse Beteiligten Rechnung trägt.
Bei allem technischen Fortschritt muss aber immer auch klar sein: Am Ende
ist es der Mensch, der die Entscheidungen fällt und keine
Maschine.“ Auf der Frühjahrskonferenz im Juni 2022 hat
die Justizministerkonferenz bereits festgestellt, dass die Schriftsätze
in Massenverfahren einen erheblichen gerichtlichen Aufwand bei der Sachverhaltserfassung
verursachen, da sich diese oftmals nicht auf den konkreten Einzelfall beziehen.
Die Länder setzten sich deshalb für Überlegungen ein, wie
in diesen Fällen Strukturvorgaben für einen einzelfallbezogenen
und konzentrierten Parteivortrag helfen können. Auf
Initiative Bayerns hat die Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister
mehrfach ein umfassendes rechtspolitisches Reformpaket des Bundes für
den Zivilprozess angemahnt. Eisenreich: „Für
die Digitalisierung der Justiz ist eine gute Zusammenarbeit von Bund und
Ländern notwendig, weil die Länder für die Justiz
mit Ausnahme der obersten Gerichtshöfe und des Generalbundesanwalts
zuständig sind und der Bund für die Gesetzgebung. Für
eine erfolgreiche digitale Transformation der Justiz bedarf es entschlossener
Schritte und mehr Tempo. Neben hohen Investitionen ist für die Digitalisierung
der Justiz die Modernisierung von Bundesgesetzen notwendig. Der bestehende
gesetzliche Rahmen ist noch viel zu oft ein Hemmschuh und muss durch den
Bund an vielen Stellen modernisiert werden. Ab Juli erarbeitet eine auf
bayerische Initiative von der Justizministerkonferenz beschlossene Kommission
bis Ende des Jahres Vorschläge.“ Hintergrund
zur Digitaloffensive von Bayerns Staatsminister der Justiz Georg Eisenreich:
Elektronischer Rechtsverkehr:
Der elektronische Rechtsverkehr ist bei allen bayerischen Gerichten und
Staatsanwaltschaften eingeführt. Videoverhandlungen:
Seit Juli 2021 haben alle 99 ordentlichen Gerichte in Bayern Zugang zu
einer Videokonferenzanlage. Daneben setzt die Justiz auf ein Videokonferenz-Tool,
das bayernweit freigegeben wurde. Allein im Jahr 2023 gab es rund 13.000
Videoverhandlungen und -anhörungen im Freistaat.
Einführung der E-Akte: Bis 2026 muss die elektronische
Akte deutschlandweit eingeführt sein. In Bayern müssen 127 Standorte
mit etwa 15.000 Arbeitsplätzen mit der E-Akte ausgestattet werden.
Die Regeleinführung der E-Akte an allen bayerischen Gerichten in Zivil-,
Familien- und Immobiliarvollstreckungs- sowie Betreuungssachen ist abgeschlossen.
Am 24. Juni 2024 wird sie in Grundbuch- und am 15. Juli 2024 auch in Insolvenzsachen
beendet sein. Geplant ist, die Regeleinführung in Nachlass- und Strafsachen
im Herbst 2024 zu beginnen. Bis heute wurden bereits über 750.000
Verfahren rein elektronisch geführt
Neue Digitalabteilung im Justizministerium:
Justizminister Eisenreich hat zum 1. April 2023 eine neue Abteilung „Digitalisierung
und Innovation“ eingerichtet (Pressemitteilung hier
abrufbar). Zudem wurde im Juli 2023 ein neues Referat für Legal Tech
und Künstliche Intelligenz geschaffen. Interdisziplinäre
Vernetzung und Austausch: Im März 2018 wurde die „Denkfabrik
Legal Tech“ gegründet, die über 600 Juristinnen und Juristen
sowie IT-Expertinnen und -Experten aus Justiz, Wirtschaft, Anwaltschaft
und Forschung vernetzt. Ziel ist es, die Kenntnisse über Einsatzmöglichkeiten
moderner Legal-IT-Tools zu vertiefen. Minister Eisenreich richtete zudem
für strategische Aufgaben im Oktober 2019 die „Stabsstelle Legal
Tech“ ein. Neues Berufsfeld für
Referendarinnen und Referendare: Seit Juli 2023 können Referendarinnen
und Referendare in Bayern das neue Berufsfeld „IT-Recht und Legal
Tech“ wählen (Pressemitteilung hier
abrufbar). Beteiligung an der Fortentwicklung
innovativer Ermittlungswerkzeuge: Die bayerische Justiz beteiligte
sich gemeinsam mit Spitzenforschern aus den Niederlanden an der Fortentwicklung
des „Dark Web Monitor“ einer Art Suchmaschine für
das Darknet. Im Juni 2022 stiegen auch Wiener Blockchain-Spezialisten in
das Projekt ein: Mit dem Analyse-Tool GraphSense können die Ermittler
besser der Spur des Geldes folgen, wenn z. B. für Kinderpornografie
mit Bitcoins bezahlt wird. Zudem ist die bayerische Justiz mit österreichischen
Spitzenforschern seit August 2023 dabei, den Fake-Shop Detector auf die
besonderen Anforderungen der Strafverfolgungsbehörden zuzuschneiden
und weiterzuentwickeln (Pressemitteilung hier
abrufbar). Automatisierte Anonymisierung von
Urteilen: Ziel eines vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz
unterstützten Forschungsprojekts mit der Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg ist es, in Zukunft in geeigneten Fachbereichen eine
größere Anzahl von Urteilen veröffentlichen zu können.
Software zur juristischen Aktenstrukturierung:
Das Bayerische Justizministerium hat zudem bereits die Entwicklung eines
Projekts für eine Software zur juristischen Aktenstrukturierung in
Auftrag gegeben und erfolgreich ausgeschrieben. Die Software wird Entscheiderinnen
und Entscheidern als Hilfsmittel bei der juristischen Fallbearbeitung dienen.
Die Software wird voraussichtlich noch in diesem Jahr zur Verfügung
stehen. Erprobung innovativer Legal Tech-Anwendungen
zur Unterstützung von Richterinnen und Richtern bei Massenverfahren:
Richterinnen und Richter bei den Landgerichten München I und Ingolstadt
testen bereits eine Anwendung zur Unterstützung in erstinstanzlichen
Dieselverfahren. Bei dem Oberlandesgericht München soll demnächst
die Erprobung einer Software zur Unterstützung in zweitinstanzlichen
Dieselverfahren und beim Amtsgericht Erding die Erprobung einer Software
zur Unterstützung in Fluggastrechteverfahren beginnen.
Grundlagenforschung im Bereich Large Language Models
(LLMs): In Zusammenarbeit mit Nordrhein-Westfalen sollen erste
Erfahrungen mit generativen Sprachmodellen für die
Justiz gesammelt werden wissenschaftlich begleitet von der Technischen
Universität München und der Universität zu Köln.
Automatisierte Textanalyse: Bis Ende
September 2023 wurde am Landgericht Ingolstadt der Einsatz eines automatisierten
Textanalysetools evaluiert. Die Pilotierung zeigte vielversprechende Ergebnisse.
Ein Textanalysetool könnte insbesondere für die Serviceeinheiten
eine spürbare Entlastung bringen. Aufgrund der vielversprechenden
Pilotierungsergebnisse wird derzeit die Durchführung eines Vergabeverfahrens
zur Beschaffung im Rahmen einer länderübergreifenden Kooperation
geprüft. Bayerns Justizminister Georg Eisenreich
hat zudem zahlreiche rechtspolitische Initiativen auf
den Weg gebracht. So wurde beispielsweise im Jahr 2022 auf Initiative von
Staatsminister Georg Eisenreich der Digitalgipfel des Bundes und der Länder
eingerichtet: Beim dritten Digitalgipfel von Bund und Ländern,
der im Vorfeld der Justizministerkonferenz im Herbst 2023 stattfand, haben
Bund und Länder auf bayerische Initiative beschlossen, eine von Bund
und Ländern gemeinsam besetzte Reformkommission einzusetzen. Die Reformkommission
wird unter Beteiligung von Vertreterinnen und Vertretern der Richterschaft,
der Anwaltschaft, der Wissenschaft, der Verbraucher, der Wirtschaft und
des Legal Tech Vorschläge für Zivilprozess der Zukunft erarbeiten. Die
Kommission beginnt ihre Arbeit am 1. Juli 2024.
Quelle:stmj.bayern.de